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Yours, KOW

Über Haupt, 1984

  • INDEX:

Franz Erhard Walther

Franz Erhard Walther was born in 1939 in Fulda, Germany. His work began in 1957 and has continued to develop with straightforward concentration until today. After studying at the Düsseldorf Art Academy with Karl Otto Goetz, Walther lived in New York from 1967 to 1971. He participated in the documents 5, 6, 7 and 8. From 1971 to 2005 he held a chair in Hamburg, where he left a great legacy. His students included Martin Kippenberger, Christian Jankowksi, Santiago Sierra, John Bock, Lilly Fischer, Jonathan Meese, Andreas Slominski and many others. Since 2006, he lives and works in Fulda again. In 2017 he was awarded the Golden Lion at the Venice Biennale, and in 2022 the German Federal Cross of Merit. Walther's sculptural and drawing oeuvre places the human being at the center of a work idea that no longer separates the viewer and the viewed, but places both in a dynamic relationship. Typical are his wall formations, which as sculptural framings invite the viewer to make his own body part of the experience of the work.

Walther´s work has been displayed in major solo exhibitions such as Franz Erhar Walther (Kunstmuseum Winterthur 2023), Body Space Time (Kunsthalle Winterthur 2021), Shifting Perspectives (Haus der Kunst, Munich 2020), etc.



Full Biography

  • Süddeutsche Zeitung Magazin, May 10, 2018Text

  • DeutschEnglish

    Franz Erhard Walther ist der wichtigste deutsche Künstler, den fast niemand kennt. Ein Gespräch über ein Leben ohne Kompromisse. Interview von Mareike Nieberding.

    SZ-Magazin: Ihre Freunde Gerhard Richter und Sigmar Polke sind weltberühmt geworden. Aber Ihr Werk ist außerhalb der Kunstwelt kaum jemandem ein Begriff. Wie erklären Sie sich das?
    Franz Erhard Walther: Ich habe oft über mich gelesen, ich sei ein Künstlerkünstler. Ich glaube, das stimmt. Die jungen Künstler von heute kennen mein Werk alle. Auch weil viele von ihnen – wie John Bock, Christian Jankowski oder Santiago Sierra – meine Schüler an der Hochschule in Hamburg waren. Aber Popularität hat mich nie interessiert.

    Warum nicht?
    Gute Kunst setzt sich durch. Und aus der Geschichte wusste ich, dass mit der Kunst von Künstlern, die zu Lebzeiten populär waren, oft etwas nicht gestimmt hat. Nehmen wir den gigantischen Erfolg von Friedrich Kaulbach am Ende des 19. Jahrhunderts. Ist der Mann Ihnen ein Begriff?

    Nein.
    Sehen Sie, zur selben Zeit arbeiteten nämlich auch die Impressionisten, die man für Schmierer hielt, Paul Cézanne, der damals noch als unvermögend galt, oder ein Verrückter namens Van Gogh. Es gibt natürlich Ausnahmen, Pablo Picasso etwa – obwohl auch in seinen späteren Arbeiten jede Menge Kompromisse aufs Publikum hin stecken.

    Im vorigen Jahr haben Sie mit 77 Jahren den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig gewonnen. Das ist so ziemlich die wichtigste Auszeichnung, die man als Künstler zu Lebzeiten erhalten kann. Eine Genugtuung?
    Ich habe Tage gebraucht, bis ich das überhaupt realisiert habe. Für mich war das wirklich Verblüffende aber nicht der Preis, sondern die Wirkung der ausgezeichneten Arbeiten auf das Publikum. Ich habe auf der Biennale keine aktuellen, sondern Arbeiten aus den Siebziger- und Achtzigerjahren gezeigt, also historische Stücke. Trotzdem haben die Besucher und jungen Künstler sie als Gegenwart empfunden. »It pops out of time«, sagte jemand. Das fand ich sehr berührend. Genugtuung habe ich keine verspürt, nein. Künstler, deren Werke nicht im Kontext der Zeit aufgehen, gab es immer. Mein Freund Walter De Maria (ein US-Konzeptkünstler, Anm. d. Red.) meinte 1969, dass sich mein Erfolg in fünf Jahren endlich eingestellt haben würde. Ich wusste, dass das länger brauchen wird. Verärgert oder enttäuscht war ich deshalb nie.

    Ruhm war also keine Kategorie, in der Sie gedacht haben?
    Wenn ich nach Ruhm gestrebt hätte, dann hätte ich eine ganz andere Werkform entwickeln müssen. Da spielen auch Geschmack, Dekoration, Repräsentation eine Rolle. Von der Kunst leben zu können war für mich lange Zeit undenkbar. Das muss man auch wollen. Ich kenne das von anderen Künstlern, nehmen wir Gerhard Richter, mit Gerd habe ich an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert. Der kam morgens in die Hochschule, hat seine Aktentasche abgestellt, seinen Spind aufgemacht, seinen grauen Kittel angezogen und gemalt. Bis Punkt zwölf Uhr. Dann ging er in die Mensa, kam wieder hoch und hat weitergemalt, bis abends 17 Uhr. Dann zog er den Kittel aus und ging nach Hause.

    Und wie arbeiten Sie?
    Ich bin eine Nachteule, vor halb drei geht bei mir nie das Licht aus. Diszipliniert bin ich auch, das muss man sein. Aber so? Ich habe ihn eines Tages gefragt: Gerd, wieso gehst du schon? Sagt er: »Nu, die Ema macht’s Abendbrot.« Irgendwann habe ich ihn gefragt: Gerd, warum malst du überhaupt? »Nu, ich will eines Tages ’nen Porsche fahren.« Damals hat er noch sehr stark gesächselt. Das fand ich okay, ein wenig Selbstironie wird dabei gewesen sein. Aber ja, seine Kunst ist in großen Teilen so geworden. Diese Rakelbilder, wenn man die in Masse sieht … (Er atmet tief ein) Tja, das würde mir nicht liegen. Als junger Mensch, mit 16, 17, ja, da wollte ich gesehen werden. Aber sobald ich begonnen hatte, mich in die Kunstgeschichte reinzudenken, und sah, wie viel große Kunst zunächst abgelehnt wurde, war mir das nicht mehr wichtig.

    Sie sind auf Widerstände gestoßen, seit Sie ein kleiner Junge waren.
    Ich war so etwas wie ein Outcast in meinem Dorf. Weil ich zeichnete, weil ich mit Mädchen spielte und weil ich mit sechs Jahren gemeinsam mit ein paar Jungs zwei Heiligenfiguren aus einer Kapelle geschleppt, ihnen mit dem Beil die Köpfe abgeschlagen und sie in Richtung Pilgerweg eingebuddelt hatte. Ich wollte den Allerhöchsten herausfordern. Für meine Familie war das eine Katastrophe.

    Wie sind Sie aufgewachsen?
    In einem kleinbürgerlichen, erzkatholischen Elternhaus. Mit Oma, Opa, einer Tante mit unehelicher Tochter und meiner Schwester. Meine Mutter war auf dem Gymnasium gewesen und zitierte zu Geburtstagen Shakespeare. Mein Vater war Bäcker und kam von einem Bauernhof in der Rhön. Er sprach so ein komisches Deutsch, eine Mischung aus Dialekt und Hochsprache. In meinen Ohren klang das schrecklich. Zwischen den beiden waren Welten. Die anderen Jungs im Dorf waren Bauernjungs. Das war intellektuell null. Mir war langweilig. Deshalb flüchtete ich mich in meine Zauberwelt. Für mich war alles mit Bildern durchsetzt. Mit Formungen. Ich sah in allem Gesichter und Gestalten, im Putz des Hauses gegenüber nach einem Schlagwetter, in den Wolken. Das hat mich von den anderen separiert.

    Und wie ist dann die Kunst in Ihr Leben gekommen?
    Im Haus gab es drei Kunstalben mit eingeklebten, sehr guten Reproduktionen. Die habe ich mir begeistert angeschaut. Mit dem Zeichnen begann ich als Schulkind nach dem Krieg. Davor war ich von Angst besetzt gewesen. Der Vater an der Front, immerzu Fliegeralarm, die Bomben, die Gestapo, die eines Tages unseren Nachbarn abholte, das Zittern meiner Mutter, die Transporte, die ich gesehen habe, in Viehwaggons. Die meiste Zeit haben wir in einem provisorisch mit Balken abgestützten Keller verbracht. Das Zeichnen danach war wie ein Aufatmen. Ich weiß noch, wie fasziniert ich von meiner Fähigkeit war, etwas zuvor Gesehenes auf Papier wieder­geben zu können. Mit den Jahren ist das Zeichnen zu meiner Sprache geworden. Wenn ich nicht zeichnen könnte, würde ich mich als stumm empfinden.

    Wie kamen Sie in der Nachkriegszeit an Papier und Stifte?
    Mein Großvater war höherer Bahnbeamter, der hatte Zugang zu Papier, Bleistiften, Radiergummis. Ich habe aber nie einen ganzen Bleistift bekommen, immer nur so Stummel, für die ich einen Halter hatte. Damit bin ich an meinen Zauberort.

    Ihren Zauberort?
    In dem Haus in Maberzell bei Fulda, in dem ich aufgewachsen bin, gab es eine kleine Abseite, ein Zimmerchen mit Fenster, in dem ein alter Schrank stand. In dieses Zimmerchen habe ich mir einen Tisch und einen Stuhl gestellt. Sobald ich die Tür schloss, war ich ganz für mich. Das war mein Refugium, meine Heimat, mein Schutzraum.

    Schon als Sie zehn waren, nannte Ihre Familie Sie einen Künstler.
    Das war wichtig für mich. Ich hatte diesen Begriff ja gar nicht.

    War das denn positiv gemeint?
    Ja, das wurde mit einer gewissen Bewunderung gesagt und bezog sich auf mein Zeichentalent. Das war auch in der Dorfschule so.

    Ihr Vater wollte, dass Sie den elterlichen Betrieb übernehmen.
    Völlig ballaballa.

    Sie wollten stattdessen Comic-zeichner werden.
    Ich hatte ein dickes Cartoonbuch, auf Englisch, ich vermute, dass es von den amerikanischen Soldaten kam. Das habe ich geliebt. Also habe ich Cartoons gezeichnet und an Illustrierte geschickt. Einige sind auch gedruckt worden.

    Warum wurde nicht mehr aus Ihrer Liebe zu den Comics?
    Meine kamen mir irgendwann peinlich vor, also habe ich mit dem Federmesser Teile rausgeschnitten. Und zwar mit der Vorstellung, dass die Betrachter die fehlenden Teile ergänzen, also handeln.

    Dieser Moment des Handelns wurde viele Jahre später zur Grundlage Ihrer Kunst.
    Das hatte in den ausgeschnittenen Comics, in ausradierten Zeichnungen und Umrisszeichnungen seine Anfänge. Für die Umrisszeichnungen hatte ich anonyme Formen gefunden.

    Eine Form kann anonym sein?
    Na, der Strich muss anonym sein, darf also keinen Charakter haben, keinen Ausdruck. Ich zeige es Ihnen mal. (Er holt eine Kiste mit Zeichnungen aus dem Regal, Hunderte von Blättern mit verschiedenen uneindeutigen Formen.) Das könnte eine Vase sein.

    Oder ein Frauenkörper.
    Oder so. Den Binnenraum habe ich leer gelassen, eben mit der Vorstellung, dass der Betrachter ihn imaginativ füllt. Also: Nicht der Strich auf dem Blatt Papier ist das Werk, sondern es muss Handlung dazukommen. In dem Moment wird ununterscheidbar, wo das Werk ist. Ist es in meiner Zeichnung oder in meiner Imagination? Oder dazwischen! Diese Vorstellung hat mich ein Leben lang fasziniert: dass zu einem Werk Handlung kommen könnte. Mit der Konsequenz, dass die Handlung selbst Werkcharakter bekommt.

    Zu der Zeit war das eine neue Idee. Es gab noch keine Konzeptkünstler. Die Kunst der Fünfzigerjahre bestand großteils aus klassischen Malern, die Farbe auf eine Leinwand auftrugen.
    Niemand verstand, was ich wollte. Mit 17 erfuhr ich durch Zufall, dass es in Offenbach eine Werkkunstschule gab. Ich bewarb mich mit 150 anderen, es gab zwanzig Plätze, ich war der Jüngste und wurde genommen. Aber so richtig reingepasst habe ich nicht. Ich war in der Schriftklasse, aber statt Schriften zu schneiden, machte ich Wortbilder. Ich setzte zum Beispiel das Wort Afrika in Schwarz auf einen ockerfarbenen Untergrund, mit langgezogenen Buchstaben, weil in Afrika in meiner Vorstellung alles groß war, Palmen, Giraffen, Massai.

    Wie reagierten Ihre Kommilitonen?
    Die hielten das für Übungen. Eines Tages sagte der gute Professor: »Herr Walther, machen Sie doch was aus Ihrem Talent! Ein einziges Wort auf so ein Blatt setzen, das kann jeder Schildermaler, bei uns geht es um Gestaltung!« Da habe ich ihm versucht zu erklären, dass ich keine Gestaltung machen darf. Weil sich der Betrachter dann ja mit der Gestaltung befassen würde und nicht mit dem Begriff, den er zu einer Bildvorstellung ent­wickeln soll. Da sagte er: »Was Sie machen wollen, nennt man freie Kunst. Gehen Sie an die Städelschule!«

    Aber da hat Sie auch niemandverstanden: Sie sind rausgeflogen.
    Am Städel traf ich auf verblasene Mal-Ideen und alberne Kämpfe zwischen gegenständlichen und abstrakten Malern. Um all das habe ich mich gar nicht geschert. Ich wollte alles neu machen. Nichts wiederholen. Nichts abwandeln. Erst recht, nachdem ich auf der »documenta« 1959 Jackson Pollock, Barnett Newman und Lucio Fontana gesehen hatte. Fontanas zerschnittene Leinwand, das war für mich ein großes Erlebnis, weil es meine ganze klassische Bildvorstellung außer Kraft gesetzt hat. Ich fragte mich, was ist das nun, wenn es kein Bild, keine Plastik, kein Relief ist? Das hat mich nicht mehr losgelassen.

    Wie hat sich diese Erfahrung in Ihrer Arbeit niedergeschlagen?
    Ich fing an, mit Materialien zu experimentieren, mit Papierklebungen und Nesselstoffen. Ich wollte den Malprozess durch einen Materialprozess ersetzen. Die Herren am Städel fanden das »einer deutschen Kunsthoch­schule nicht gemäß«. Hah! Dass ich nicht lache. Ich wurde zwangsexmatrikuliert. Ich vereinsamte. Also ließ ich mir die Prospekte aller deutschen Kunstakademien zukommen und entdeckte, dass der informelle Maler Karl Otto Götz in Düsseldorf lehrte. Ein Glücksfall! Denn 1962 fingen auch Gerhard Richter und Sigmar Polke in Götz’ Klasse an, eine kritische Masse, die man als junger Mensch braucht. Gerd hat mal zu mir gesagt: »Wäre ich wo­anders gelandet, hätte ich es vielleicht nicht gepackt.« Das ging mir genauso.

    Aber auch Ihre Klassenkameraden verstanden Sie nicht. Im Gegenteil: Sie machten sich über Sie lustig.
    Sie haben mit meinen Arbeiten eine Kissenschlacht veranstaltet. Das fand ich unmöglich. Ich habe es nicht selbst gesehen, K. O. Götz berichtete mir davon: wie er in die Klasse kam und sah, wie Richter, Polke und Konrad Fischer, der später eine bedeutende Galerie gründete, sich mit meinen Kissenformen bewarfen. Als er die Hand hob, um ihnen Einhalt zu gebieten, muss der Fischer scheinheilig gesagt haben: »Wieso? Der Franz sagt doch immer, man soll mit den Sachen spielen!«

    Hat Sie das verletzt?
    Die Ablehnung, die ich in Fulda, Offenbach und Frankfurt erfuhr, hat mich bestärkt, weil da alles so konservativ war. Aber die Künstlerkollegen in Düsseldorf konnte ich schätzen, auch wenn wir noch Studenten waren. Das war schon schwierig für mich. Das kann ich nicht romantisieren. Nach dem Motto: Ich bin auf Widerstände gestoßen, ich bin der Held. Überhaupt nicht!

    Wie war denn die Dynamik zwischen Ihnen? Gab es einen Clown, einen Mitläufer, einen Anführer?
    Das war alles irgendwie vorhanden, aber wir waren autonom, außer dass der Sigmar den Gerd am Anfang für sein Malen bewundert hat. Er hat versucht, es im Sinne von Gerd zu machen, aber konnte es einfach nicht. Wir haben unsere Witzchen darüber gemacht, bis er eines Tages wortlos die Akademie verließ und mit einem Satz Eier zurückkam. Er klappte die Schachtel auf und warf die rohen Eier auf sein Bild. Er hat aus dem Unvermögen, realistisch abbildhaft zu malen, einen Stil gemacht, eine Haltung. Großartig! Aber es gab keine Führungsfigur. Vielleicht war es auch wichtig, dass da keiner war, der den Takt an­gab. Das war auch der Grund, warum ich nicht zu Beuys in die Klasse wollte: weil der das Kommando hatte.

    Joseph Beuys hat an der Akademie unterrichtet und Ihre Arbeiten als »belegte Brote« und »Beamtenkunst« bezeichnet. Was hatte er gegen Sie?
    Wir sind sehr früh aufeinander getroffen, bereits 1962 auf dem Gang der Akademie. Ich kannte Beuys nicht, damals trug er noch so einen verdetschten Hut, nicht den später wohlgeformten, er humpelte ein bisschen, ich dachte, das wäre so ein Altstudent, so ’n Faktotum. Er fragte, woher wir kämen. Wir erzählten, dass wir gerade eine Ausstellung in der Klasse von Horst Egon Kalinowski besucht hätten. »Ah, toller Künstler«, sagte er. Ich so: Nee, das ist so dekorativ, alte Klamotten, nix Neues. Da sagt er: »Und Sie wollen was Neues machen?« Ja! »Was machen Sie denn?« Er kam also mit in die Klasse von K. O. Götz und machte die eben zitierten Bemerkungen. Der war es gewohnt, dass ihm die Leute an der Akademie zu Füßen lagen. Ich beharrte nicht gerade kleinlaut auf meinen eigenen Vorstellungen. Das hat den Mann schlicht provoziert. Außerdem fand ich ihn auch künstlerisch ziemlich old fashioned, diese Bedeutungshuberei, das war muffig, und dann die Sprüche vom »Nordischen«, vom »Boden«, dieses Geraune. Seine Sprache war damals auch noch ziemlich klumpig. Mich hat das alles an die Nazi-Zeit erinnert. Damit wollte ich nichts zu tun haben.

    Später hat er eine Ausstellung von Ihnen verhindert.
    Zwei Ausstellungen, die für mich sehr wichtig gewesen wären. Bei Alfred Schmela in Düsseldorf, dem Galeristen schlechthin damals. Schmela hat wohl Beuys gefragt, ob er mich kenne und was er von mir halte. Da soll Beuys gesagt haben: »Wenn du den ausstellst, kriegst du meine Ausstellung nicht.« Das Gleiche mit der Sammlung Ströher in Darmstadt.

    1967 zogen Sie nach New York. War das eine Flucht?
    Ja. Ich habe sehr schnell realisiert, dass ich mit meinen Ideen in Deutschland keine Chance hatte. Hier hat mir jeder Pumpelmus, der gehört hat, ich sei Künstler, erzählt, was das ist und wie ich das zu machen hätte. Jeder! In New York traf ich auf Toleranz, Neugierde, Großzügigkeit. Da hieß es: Fine, great, do your thing. Aber es war auch ein Test. Wenn meine Arbeit in New York keine Wirkung entfaltet hätte, ich hätte nicht mehr weitergewusst.

    Was haben Sie dort gesucht, die Gegenwart oder die Zukunft?
    Die Zukunft! Die Gegenwart war Pop-Art mit Andy Warhol und seinen teils wunderbaren Gesten im Zentrum. Ich habe ihn ein paar Mal getroffen, in der Factory. Ein sehr angenehmer, zugewandter Mensch, eher still, fast gehemmt. Er hatte ja eine Glatze, trug Perücke und hatte so ein Pickelgesicht, das er versucht hat, mit Puder wegzudrücken. Als Exot und als schwuler Mann musste er sich ein Milieu schaffen, in dem er aufgehoben war.

    Wie kamen Sie damals als Deutscher ohne nennenswerte Erfolge überhaupt mit der Kunstwelt in Kontakt?
    Über eine Kuratorin vom Museum of Modern Art, die mich Jahre zuvor auf einer Informationsreise besucht hatte. Sie sorgte dafür, dass sich meine Ankunft herumsprach. Es riefen dauernd Leute an, die mich kennenlernen wollten. Eines Tages hatte ich einen Mann mit Fistelstimme und starkem französischen Akzent am Telefon, der sich mit dem Namen Marcel Duchamp vorstellte. Ich dachte, da will mich jemand verarschen. Er hatte von meinen Arbeiten gehört und wollte mich treffen. Marcel Duchamp, ein Monument des 20. Jahrhunderts, ruft einen unbekannten Künstler aus Germany an! Das war für mich eine große Belehrung für später: Werde nie arrogant jungen Künstlern gegenüber. Leider hatte ich Blödmann erst drei Tage später Zeit, weil ich in einer Konditorei Torten verzierte, um Geld zu verdienen. Wir verabredeten uns für den Herbst. Er brach am übernächsten Tag zu seinem alljährlichen Sommeraufenthalt in Neuilly auf. Und verstarb.

    Wissen Sie, worüber er mit Ihnen reden wollte?
    Über das Moment der Handlung in der Kunst. Davon sprach er am Telefon.

    Sie arbeiteten damals an Ihrem ersten Werksatz: einer Sammlung von 58 verschiedenen Formungen, viele aus Stoff, die erst in der Aktivierung durch den Menschen zu einem Kunstwerk werden. Durch Aktion.
    Trotzdem ist es keine Aktionskunst. Das ist mir wichtig. Es ist auch keine Performancekunst, diese Begriffe kamen ja damals auf und haben meiner Rezeption schwer geschadet.

    Warum? Ihre Kunst wird erst zum Werk, wenn ein Mensch es aktiviert: Das ist doch performativ.
    Ja, aber Performancekunst lebt vom Publikum, und meine Werkform braucht kein Publikum, der Akteur ist sein eigenes Publikum. Außerdem kann es auch in Gedanken aktiviert werden. Man muss es nicht physisch tun, indem man es anfasst. Es geht um das Verhältnis von Körper, Material, Zeit und Raum.

    Ein Minimalist wie Donald Judd experimentierte in den Sechzigern mit ähnlichen Ideen.
    Ich kannte Judd ganz gut. Aber meine Kunst ist eben nicht minimal. Sie ist maximal.

    Anders als in Deutschland stieß dieses Konzept in New York auf großes Interesse: Bereits zwei Jahre nach Ihrer Ankunft wurden Sie im Museum of Modern Art ausgestellt. Für Ihre Kollegen zu Hause muss das ein Schlag in die Magengrube gewesen sein.
    Das MoMA war eine gigantische Autorität, die Ausstellung wurde in allen großen deutschen Tageszeitungen besprochen. Die Künstlerkollegen behandelten mich danach, als wäre ich ein Gauner oder Betrüger. Dabei strotzten die Besprechungen vor Unverständnis. In der Welt stand: »Wo die Kunst heute hingekommen ist, kann man daran zeigen, dass dem deutschen Künstler Franz Erhard Walther in dem berühmten MoMA ein Sackhüpfen erlaubt wird.«

    Mit dreißig eine Ausstellung im MoMA, Freundschaften mit den größten Künstlern Ihrer Zeit, viermaliger Teilnehmer der »documenta« in Kassel, 1971 folgte eine Professur an der Kunsthochschule in Hamburg. Und trotzdem sind nicht Sie zum Star geworden und haben keine Millionen verdient, so wie Ihr Studienfreund Gerhard Richter. Wurmt Sie das?
    Um kommerziell so erfolgreich zu sein wie Richter, muss man Sachen machen, die den Vorstellungen des Publikums entgegenkommen. Und das wollte ich nicht. Ich wollte keine Varianten machen, keine Kompromisse. Das hätte ich als einen Betrug an meinem Werk empfunden. Das gehört einfach nicht zu meiner Vorstellung von Kunst.

    Sie sind nun 77 Jahre alt und arbeiten immer noch Tag für Tag an Ihrem Holztisch in Ihrem Atelier in Fulda.
    Eher Nacht für Nacht. Ich schlafe sogar hier, dort hinten in der Ecke steht mein Bett. Für mich als Künstler ist die Nacht die spannendste Zeit. Absolute Ruhe, ich bin durch nichts gestört, es gibt keinen, der mich ablenkt. Sie können sich aber auch auf niemanden beziehen, es ist niemand da, der sagt, du bist richtig, du bist falsch. Das ist ein merkwürdiges Gefühl, manchmal auch mit Melancholie verbunden. Diese Einsamkeit des Ateliers muss man auch aushalten können. Ich kenne eine Reihe von Künstlern, die nachts in die Kneipe müssen, weil sie diese Einsamkeit eben nicht aushalten.

    Warum können Sie es?
    Durch die Begeisterung für Kunst. Weil ich das Gefühl habe, dass ich noch in der Lage bin, die Dinge weiterzuentwickeln, weiterzutreiben, zu neuen Vorstellungen zu kommen.

    Wie sind Ihre Wegbegleiter mit jener Einsamkeit umgegangen?
    Walter De Maria war in der Lage, die Einsamkeit des Ateliers zu ertragen, damit zu leben, sie produktiv zu machen. Andere Künstler brauchen den Rummel, das Draußen, bei Kippi war das so. Der brauchte das, das war sein Lebenselixier, seine Stimulanz.

    Wie sind Martin Kippenberger und Sie sich zum ersten Mal begegnet?
    Er war mein Schüler in Hamburg. Aber er hat mich getestet, bevor er zu mir in die Klasse wechselte. Damals war er vielleicht Mitte zwanzig, das Gesicht leicht ruiniert, ob das Alkohol war oder Schlägereien, weiß ich nicht. Aber er hatte eine optimistische, fröhliche Ausstrahlung. Er kam also und fragte, ob ich nicht mal seine Arbeiten angucken wollte. Ich besuchte ihn noch am selben Tag, an der Wand hing eine Fotoreihe, für die er seinen Kopf mit Rasierschaum eingesprüht hatte. Ich kapierte sofort, was er wollte. Es gibt doch dieses Bild von Marcel Duchamp mit Schaum im Gesicht und Hörnern, fotografiert von Man Ray. Er dachte, ich gehe da jetzt ernst drauf ein, da hätte er sich schlappgelacht. Ich sagte nur, »Na, Martin Duchamp …« Da war er baff. Der Unterricht fand dann in Kneipen statt, im »Vienna«. Da waren noch Markus und Albert Oehlen dabei und ’ne Reihe anderer. Das war immer heiter. Da hieß es: »Wir haben Zukunft, wir sind die Nächsten!« Das waren so Sätze von Kippi. Auch typisch für ihn, er sagte damals: »Mit euch«, also mit meiner Generation, »mit euch trete ich überhaupt nicht in Konkurrenz, der Berg ist mir viel zu hoch. Ich lauf drumrum!« Ist das nicht ein toller Satz?

    Martin Kippenberger ist nicht nur mit seiner Kunst, sondern auch mit seinem Lebenswandel berühmt ­geworden. Hat Sie diese Seite des Künstlerlebens nie interessiert? Die Frauen, die Drogen, der Exzess?
    Nein, meine Stimulanz ist die Ruhe. Ich habe auf meine Weise exzessiv gelebt, nicht nach außen im Sinne von Drogen, saufen, Schlägereien. Sondern indem ich meine Kunst gegen alle Widerstände durchgesetzt habe.

    Es scheint, als hätten Sie Ihr Leben Ihrer Kunst untergeordnet.
    Das ist wohl so. Das habe ich der Familie teilweise auch zugemutet, in der ersten Ehe die zwei Söhne habe ich nicht vernachlässigt, aber die haben nicht die übliche Kindheit haben können, weil ich als Vater nicht wirklich präsent war.

    Bereuen Sie das?
    Ein bisschen, ja. Wir haben heute einen wunderbaren Umgang, aber zeitweilig habe ich eine gewisse Trauer gespürt, weil etwas fehlte.

    Sie haben Ihre persönliche Verwirk-lichung über die Bedürfnisse Ihrer Kinder gestellt.
    Das ist etwas krass gesagt, aber es ist was dran. Dennoch habe ich das, was ich als Vater tun konnte, immer getan. Ein Rabenvater, der sich nicht kümmert, war ich nicht. Ich war den beiden sehr zugetan. Erschwerend kommt hinzu, dass Künstlersein kein Beruf ist.

    Sondern?
    Einen Beruf verbinde ich mit einer Aufgabe. Die gibt es in der Kunst nicht. Sie schwebt frei im Raum. Mir hat auch niemand einen Auftrag gegeben. Niemand außer mir selbst.

    Sie sind zum zweiten Mal verheiratet. Und es klingt, als seien Ihre Partnerinnen sehr großzügig mit Ihnen gewesen. Ihre erste Frau Johanna näht immer noch Ihre Stoffarbeiten, obwohl sie seit fast vierzig Jahren getrennt sind. Ihre zweite Frau Susanne organisiert Ihre Ausstellungen und Publikationen.
    Ich hatte Glück. Ich habe auch versucht, ein Alltagsleben mit Familie zu führen. Aber im Zentrum, dagegen konnte ich mich nicht wehren, blieb die Kunst.

    Hinter Ihnen steht ein Bild, das Ihre 17-jährige Tochter Giorgina von Ihnen gemalt hat. Es zeigt Sie mit dem Goldenen Löwen in der Hand. Ist das Verhältnis zu ihr anders als das zu Ihren Söhnen damals?
    Ja. Ich kann heute großzügiger sein, als ich es damals mit meinen Jungs war. Da spielt bestimmt auch mein Alter eine Rolle. Giorgina will Comiczeichnerin werden, und wir sitzen oft stundenlang schweigend nebeneinander und zeichnen. Auf mich ist die Kunst irgendwie niedergerieselt, wie Sternenstaub. Vielleicht geht es ihr genauso.

    https://sz-magazin.sueddeutsche.de/kunst/die-ablehnung-hat-mich-bestaerkt-85671

    Foto: Evelyn Dragan

    Franz Erhard Walther ist der wichtigste deutsche Künstler, den fast niemand kennt. Ein Gespräch über ein Leben ohne Kompromisse. Interview von Mareike Nieberding.

    SZ-Magazin: Ihre Freunde Gerhard Richter und Sigmar Polke sind weltberühmt geworden. Aber Ihr Werk ist außerhalb der Kunstwelt kaum jemandem ein Begriff. Wie erklären Sie sich das?
    Franz Erhard Walther: Ich habe oft über mich gelesen, ich sei ein Künstlerkünstler. Ich glaube, das stimmt. Die jungen Künstler von heute kennen mein Werk alle. Auch weil viele von ihnen – wie John Bock, Christian Jankowski oder Santiago Sierra – meine Schüler an der Hochschule in Hamburg waren. Aber Popularität hat mich nie interessiert.

    Warum nicht?
    Gute Kunst setzt sich durch. Und aus der Geschichte wusste ich, dass mit der Kunst von Künstlern, die zu Lebzeiten populär waren, oft etwas nicht gestimmt hat. Nehmen wir den gigantischen Erfolg von Friedrich Kaulbach am Ende des 19. Jahrhunderts. Ist der Mann Ihnen ein Begriff?

    Nein.
    Sehen Sie, zur selben Zeit arbeiteten nämlich auch die Impressionisten, die man für Schmierer hielt, Paul Cézanne, der damals noch als unvermögend galt, oder ein Verrückter namens Van Gogh. Es gibt natürlich Ausnahmen, Pablo Picasso etwa – obwohl auch in seinen späteren Arbeiten jede Menge Kompromisse aufs Publikum hin stecken.

    Im vorigen Jahr haben Sie mit 77 Jahren den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig gewonnen. Das ist so ziemlich die wichtigste Auszeichnung, die man als Künstler zu Lebzeiten erhalten kann. Eine Genugtuung?
    Ich habe Tage gebraucht, bis ich das überhaupt realisiert habe. Für mich war das wirklich Verblüffende aber nicht der Preis, sondern die Wirkung der ausgezeichneten Arbeiten auf das Publikum. Ich habe auf der Biennale keine aktuellen, sondern Arbeiten aus den Siebziger- und Achtzigerjahren gezeigt, also historische Stücke. Trotzdem haben die Besucher und jungen Künstler sie als Gegenwart empfunden. »It pops out of time«, sagte jemand. Das fand ich sehr berührend. Genugtuung habe ich keine verspürt, nein. Künstler, deren Werke nicht im Kontext der Zeit aufgehen, gab es immer. Mein Freund Walter De Maria (ein US-Konzeptkünstler, Anm. d. Red.) meinte 1969, dass sich mein Erfolg in fünf Jahren endlich eingestellt haben würde. Ich wusste, dass das länger brauchen wird. Verärgert oder enttäuscht war ich deshalb nie.

    Ruhm war also keine Kategorie, in der Sie gedacht haben?
    Wenn ich nach Ruhm gestrebt hätte, dann hätte ich eine ganz andere Werkform entwickeln müssen. Da spielen auch Geschmack, Dekoration, Repräsentation eine Rolle. Von der Kunst leben zu können war für mich lange Zeit undenkbar. Das muss man auch wollen. Ich kenne das von anderen Künstlern, nehmen wir Gerhard Richter, mit Gerd habe ich an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert. Der kam morgens in die Hochschule, hat seine Aktentasche abgestellt, seinen Spind aufgemacht, seinen grauen Kittel angezogen und gemalt. Bis Punkt zwölf Uhr. Dann ging er in die Mensa, kam wieder hoch und hat weitergemalt, bis abends 17 Uhr. Dann zog er den Kittel aus und ging nach Hause.

    Und wie arbeiten Sie?
    Ich bin eine Nachteule, vor halb drei geht bei mir nie das Licht aus. Diszipliniert bin ich auch, das muss man sein. Aber so? Ich habe ihn eines Tages gefragt: Gerd, wieso gehst du schon? Sagt er: »Nu, die Ema macht’s Abendbrot.« Irgendwann habe ich ihn gefragt: Gerd, warum malst du überhaupt? »Nu, ich will eines Tages ’nen Porsche fahren.« Damals hat er noch sehr stark gesächselt. Das fand ich okay, ein wenig Selbstironie wird dabei gewesen sein. Aber ja, seine Kunst ist in großen Teilen so geworden. Diese Rakelbilder, wenn man die in Masse sieht … (Er atmet tief ein) Tja, das würde mir nicht liegen. Als junger Mensch, mit 16, 17, ja, da wollte ich gesehen werden. Aber sobald ich begonnen hatte, mich in die Kunstgeschichte reinzudenken, und sah, wie viel große Kunst zunächst abgelehnt wurde, war mir das nicht mehr wichtig.

    Sie sind auf Widerstände gestoßen, seit Sie ein kleiner Junge waren.
    Ich war so etwas wie ein Outcast in meinem Dorf. Weil ich zeichnete, weil ich mit Mädchen spielte und weil ich mit sechs Jahren gemeinsam mit ein paar Jungs zwei Heiligenfiguren aus einer Kapelle geschleppt, ihnen mit dem Beil die Köpfe abgeschlagen und sie in Richtung Pilgerweg eingebuddelt hatte. Ich wollte den Allerhöchsten herausfordern. Für meine Familie war das eine Katastrophe.

    Wie sind Sie aufgewachsen?
    In einem kleinbürgerlichen, erzkatholischen Elternhaus. Mit Oma, Opa, einer Tante mit unehelicher Tochter und meiner Schwester. Meine Mutter war auf dem Gymnasium gewesen und zitierte zu Geburtstagen Shakespeare. Mein Vater war Bäcker und kam von einem Bauernhof in der Rhön. Er sprach so ein komisches Deutsch, eine Mischung aus Dialekt und Hochsprache. In meinen Ohren klang das schrecklich. Zwischen den beiden waren Welten. Die anderen Jungs im Dorf waren Bauernjungs. Das war intellektuell null. Mir war langweilig. Deshalb flüchtete ich mich in meine Zauberwelt. Für mich war alles mit Bildern durchsetzt. Mit Formungen. Ich sah in allem Gesichter und Gestalten, im Putz des Hauses gegenüber nach einem Schlagwetter, in den Wolken. Das hat mich von den anderen separiert.

    Und wie ist dann die Kunst in Ihr Leben gekommen?
    Im Haus gab es drei Kunstalben mit eingeklebten, sehr guten Reproduktionen. Die habe ich mir begeistert angeschaut. Mit dem Zeichnen begann ich als Schulkind nach dem Krieg. Davor war ich von Angst besetzt gewesen. Der Vater an der Front, immerzu Fliegeralarm, die Bomben, die Gestapo, die eines Tages unseren Nachbarn abholte, das Zittern meiner Mutter, die Transporte, die ich gesehen habe, in Viehwaggons. Die meiste Zeit haben wir in einem provisorisch mit Balken abgestützten Keller verbracht. Das Zeichnen danach war wie ein Aufatmen. Ich weiß noch, wie fasziniert ich von meiner Fähigkeit war, etwas zuvor Gesehenes auf Papier wieder­geben zu können. Mit den Jahren ist das Zeichnen zu meiner Sprache geworden. Wenn ich nicht zeichnen könnte, würde ich mich als stumm empfinden.

    Wie kamen Sie in der Nachkriegszeit an Papier und Stifte?
    Mein Großvater war höherer Bahnbeamter, der hatte Zugang zu Papier, Bleistiften, Radiergummis. Ich habe aber nie einen ganzen Bleistift bekommen, immer nur so Stummel, für die ich einen Halter hatte. Damit bin ich an meinen Zauberort.

    Ihren Zauberort?
    In dem Haus in Maberzell bei Fulda, in dem ich aufgewachsen bin, gab es eine kleine Abseite, ein Zimmerchen mit Fenster, in dem ein alter Schrank stand. In dieses Zimmerchen habe ich mir einen Tisch und einen Stuhl gestellt. Sobald ich die Tür schloss, war ich ganz für mich. Das war mein Refugium, meine Heimat, mein Schutzraum.

    Schon als Sie zehn waren, nannte Ihre Familie Sie einen Künstler.
    Das war wichtig für mich. Ich hatte diesen Begriff ja gar nicht.

    War das denn positiv gemeint?
    Ja, das wurde mit einer gewissen Bewunderung gesagt und bezog sich auf mein Zeichentalent. Das war auch in der Dorfschule so.

    Ihr Vater wollte, dass Sie den elterlichen Betrieb übernehmen.
    Völlig ballaballa.

    Sie wollten stattdessen Comic-zeichner werden.
    Ich hatte ein dickes Cartoonbuch, auf Englisch, ich vermute, dass es von den amerikanischen Soldaten kam. Das habe ich geliebt. Also habe ich Cartoons gezeichnet und an Illustrierte geschickt. Einige sind auch gedruckt worden.

    Warum wurde nicht mehr aus Ihrer Liebe zu den Comics?
    Meine kamen mir irgendwann peinlich vor, also habe ich mit dem Federmesser Teile rausgeschnitten. Und zwar mit der Vorstellung, dass die Betrachter die fehlenden Teile ergänzen, also handeln.

    Dieser Moment des Handelns wurde viele Jahre später zur Grundlage Ihrer Kunst.
    Das hatte in den ausgeschnittenen Comics, in ausradierten Zeichnungen und Umrisszeichnungen seine Anfänge. Für die Umrisszeichnungen hatte ich anonyme Formen gefunden.

    Eine Form kann anonym sein?
    Na, der Strich muss anonym sein, darf also keinen Charakter haben, keinen Ausdruck. Ich zeige es Ihnen mal. (Er holt eine Kiste mit Zeichnungen aus dem Regal, Hunderte von Blättern mit verschiedenen uneindeutigen Formen.) Das könnte eine Vase sein.

    Oder ein Frauenkörper.
    Oder so. Den Binnenraum habe ich leer gelassen, eben mit der Vorstellung, dass der Betrachter ihn imaginativ füllt. Also: Nicht der Strich auf dem Blatt Papier ist das Werk, sondern es muss Handlung dazukommen. In dem Moment wird ununterscheidbar, wo das Werk ist. Ist es in meiner Zeichnung oder in meiner Imagination? Oder dazwischen! Diese Vorstellung hat mich ein Leben lang fasziniert: dass zu einem Werk Handlung kommen könnte. Mit der Konsequenz, dass die Handlung selbst Werkcharakter bekommt.

    Zu der Zeit war das eine neue Idee. Es gab noch keine Konzeptkünstler. Die Kunst der Fünfzigerjahre bestand großteils aus klassischen Malern, die Farbe auf eine Leinwand auftrugen.
    Niemand verstand, was ich wollte. Mit 17 erfuhr ich durch Zufall, dass es in Offenbach eine Werkkunstschule gab. Ich bewarb mich mit 150 anderen, es gab zwanzig Plätze, ich war der Jüngste und wurde genommen. Aber so richtig reingepasst habe ich nicht. Ich war in der Schriftklasse, aber statt Schriften zu schneiden, machte ich Wortbilder. Ich setzte zum Beispiel das Wort Afrika in Schwarz auf einen ockerfarbenen Untergrund, mit langgezogenen Buchstaben, weil in Afrika in meiner Vorstellung alles groß war, Palmen, Giraffen, Massai.

    Wie reagierten Ihre Kommilitonen?
    Die hielten das für Übungen. Eines Tages sagte der gute Professor: »Herr Walther, machen Sie doch was aus Ihrem Talent! Ein einziges Wort auf so ein Blatt setzen, das kann jeder Schildermaler, bei uns geht es um Gestaltung!« Da habe ich ihm versucht zu erklären, dass ich keine Gestaltung machen darf. Weil sich der Betrachter dann ja mit der Gestaltung befassen würde und nicht mit dem Begriff, den er zu einer Bildvorstellung ent­wickeln soll. Da sagte er: »Was Sie machen wollen, nennt man freie Kunst. Gehen Sie an die Städelschule!«

    Aber da hat Sie auch niemandverstanden: Sie sind rausgeflogen.
    Am Städel traf ich auf verblasene Mal-Ideen und alberne Kämpfe zwischen gegenständlichen und abstrakten Malern. Um all das habe ich mich gar nicht geschert. Ich wollte alles neu machen. Nichts wiederholen. Nichts abwandeln. Erst recht, nachdem ich auf der »documenta« 1959 Jackson Pollock, Barnett Newman und Lucio Fontana gesehen hatte. Fontanas zerschnittene Leinwand, das war für mich ein großes Erlebnis, weil es meine ganze klassische Bildvorstellung außer Kraft gesetzt hat. Ich fragte mich, was ist das nun, wenn es kein Bild, keine Plastik, kein Relief ist? Das hat mich nicht mehr losgelassen.

    Wie hat sich diese Erfahrung in Ihrer Arbeit niedergeschlagen?
    Ich fing an, mit Materialien zu experimentieren, mit Papierklebungen und Nesselstoffen. Ich wollte den Malprozess durch einen Materialprozess ersetzen. Die Herren am Städel fanden das »einer deutschen Kunsthoch­schule nicht gemäß«. Hah! Dass ich nicht lache. Ich wurde zwangsexmatrikuliert. Ich vereinsamte. Also ließ ich mir die Prospekte aller deutschen Kunstakademien zukommen und entdeckte, dass der informelle Maler Karl Otto Götz in Düsseldorf lehrte. Ein Glücksfall! Denn 1962 fingen auch Gerhard Richter und Sigmar Polke in Götz’ Klasse an, eine kritische Masse, die man als junger Mensch braucht. Gerd hat mal zu mir gesagt: »Wäre ich wo­anders gelandet, hätte ich es vielleicht nicht gepackt.« Das ging mir genauso.

    Aber auch Ihre Klassenkameraden verstanden Sie nicht. Im Gegenteil: Sie machten sich über Sie lustig.
    Sie haben mit meinen Arbeiten eine Kissenschlacht veranstaltet. Das fand ich unmöglich. Ich habe es nicht selbst gesehen, K. O. Götz berichtete mir davon: wie er in die Klasse kam und sah, wie Richter, Polke und Konrad Fischer, der später eine bedeutende Galerie gründete, sich mit meinen Kissenformen bewarfen. Als er die Hand hob, um ihnen Einhalt zu gebieten, muss der Fischer scheinheilig gesagt haben: »Wieso? Der Franz sagt doch immer, man soll mit den Sachen spielen!«

    Hat Sie das verletzt?
    Die Ablehnung, die ich in Fulda, Offenbach und Frankfurt erfuhr, hat mich bestärkt, weil da alles so konservativ war. Aber die Künstlerkollegen in Düsseldorf konnte ich schätzen, auch wenn wir noch Studenten waren. Das war schon schwierig für mich. Das kann ich nicht romantisieren. Nach dem Motto: Ich bin auf Widerstände gestoßen, ich bin der Held. Überhaupt nicht!

    Wie war denn die Dynamik zwischen Ihnen? Gab es einen Clown, einen Mitläufer, einen Anführer?
    Das war alles irgendwie vorhanden, aber wir waren autonom, außer dass der Sigmar den Gerd am Anfang für sein Malen bewundert hat. Er hat versucht, es im Sinne von Gerd zu machen, aber konnte es einfach nicht. Wir haben unsere Witzchen darüber gemacht, bis er eines Tages wortlos die Akademie verließ und mit einem Satz Eier zurückkam. Er klappte die Schachtel auf und warf die rohen Eier auf sein Bild. Er hat aus dem Unvermögen, realistisch abbildhaft zu malen, einen Stil gemacht, eine Haltung. Großartig! Aber es gab keine Führungsfigur. Vielleicht war es auch wichtig, dass da keiner war, der den Takt an­gab. Das war auch der Grund, warum ich nicht zu Beuys in die Klasse wollte: weil der das Kommando hatte.

    Joseph Beuys hat an der Akademie unterrichtet und Ihre Arbeiten als »belegte Brote« und »Beamtenkunst« bezeichnet. Was hatte er gegen Sie?
    Wir sind sehr früh aufeinander getroffen, bereits 1962 auf dem Gang der Akademie. Ich kannte Beuys nicht, damals trug er noch so einen verdetschten Hut, nicht den später wohlgeformten, er humpelte ein bisschen, ich dachte, das wäre so ein Altstudent, so ’n Faktotum. Er fragte, woher wir kämen. Wir erzählten, dass wir gerade eine Ausstellung in der Klasse von Horst Egon Kalinowski besucht hätten. »Ah, toller Künstler«, sagte er. Ich so: Nee, das ist so dekorativ, alte Klamotten, nix Neues. Da sagt er: »Und Sie wollen was Neues machen?« Ja! »Was machen Sie denn?« Er kam also mit in die Klasse von K. O. Götz und machte die eben zitierten Bemerkungen. Der war es gewohnt, dass ihm die Leute an der Akademie zu Füßen lagen. Ich beharrte nicht gerade kleinlaut auf meinen eigenen Vorstellungen. Das hat den Mann schlicht provoziert. Außerdem fand ich ihn auch künstlerisch ziemlich old fashioned, diese Bedeutungshuberei, das war muffig, und dann die Sprüche vom »Nordischen«, vom »Boden«, dieses Geraune. Seine Sprache war damals auch noch ziemlich klumpig. Mich hat das alles an die Nazi-Zeit erinnert. Damit wollte ich nichts zu tun haben.

    Später hat er eine Ausstellung von Ihnen verhindert.
    Zwei Ausstellungen, die für mich sehr wichtig gewesen wären. Bei Alfred Schmela in Düsseldorf, dem Galeristen schlechthin damals. Schmela hat wohl Beuys gefragt, ob er mich kenne und was er von mir halte. Da soll Beuys gesagt haben: »Wenn du den ausstellst, kriegst du meine Ausstellung nicht.« Das Gleiche mit der Sammlung Ströher in Darmstadt.

    1967 zogen Sie nach New York. War das eine Flucht?
    Ja. Ich habe sehr schnell realisiert, dass ich mit meinen Ideen in Deutschland keine Chance hatte. Hier hat mir jeder Pumpelmus, der gehört hat, ich sei Künstler, erzählt, was das ist und wie ich das zu machen hätte. Jeder! In New York traf ich auf Toleranz, Neugierde, Großzügigkeit. Da hieß es: Fine, great, do your thing. Aber es war auch ein Test. Wenn meine Arbeit in New York keine Wirkung entfaltet hätte, ich hätte nicht mehr weitergewusst.

    Was haben Sie dort gesucht, die Gegenwart oder die Zukunft?
    Die Zukunft! Die Gegenwart war Pop-Art mit Andy Warhol und seinen teils wunderbaren Gesten im Zentrum. Ich habe ihn ein paar Mal getroffen, in der Factory. Ein sehr angenehmer, zugewandter Mensch, eher still, fast gehemmt. Er hatte ja eine Glatze, trug Perücke und hatte so ein Pickelgesicht, das er versucht hat, mit Puder wegzudrücken. Als Exot und als schwuler Mann musste er sich ein Milieu schaffen, in dem er aufgehoben war.

    Wie kamen Sie damals als Deutscher ohne nennenswerte Erfolge überhaupt mit der Kunstwelt in Kontakt?
    Über eine Kuratorin vom Museum of Modern Art, die mich Jahre zuvor auf einer Informationsreise besucht hatte. Sie sorgte dafür, dass sich meine Ankunft herumsprach. Es riefen dauernd Leute an, die mich kennenlernen wollten. Eines Tages hatte ich einen Mann mit Fistelstimme und starkem französischen Akzent am Telefon, der sich mit dem Namen Marcel Duchamp vorstellte. Ich dachte, da will mich jemand verarschen. Er hatte von meinen Arbeiten gehört und wollte mich treffen. Marcel Duchamp, ein Monument des 20. Jahrhunderts, ruft einen unbekannten Künstler aus Germany an! Das war für mich eine große Belehrung für später: Werde nie arrogant jungen Künstlern gegenüber. Leider hatte ich Blödmann erst drei Tage später Zeit, weil ich in einer Konditorei Torten verzierte, um Geld zu verdienen. Wir verabredeten uns für den Herbst. Er brach am übernächsten Tag zu seinem alljährlichen Sommeraufenthalt in Neuilly auf. Und verstarb.

    Wissen Sie, worüber er mit Ihnen reden wollte?
    Über das Moment der Handlung in der Kunst. Davon sprach er am Telefon.

    Sie arbeiteten damals an Ihrem ersten Werksatz: einer Sammlung von 58 verschiedenen Formungen, viele aus Stoff, die erst in der Aktivierung durch den Menschen zu einem Kunstwerk werden. Durch Aktion.
    Trotzdem ist es keine Aktionskunst. Das ist mir wichtig. Es ist auch keine Performancekunst, diese Begriffe kamen ja damals auf und haben meiner Rezeption schwer geschadet.

    Warum? Ihre Kunst wird erst zum Werk, wenn ein Mensch es aktiviert: Das ist doch performativ.
    Ja, aber Performancekunst lebt vom Publikum, und meine Werkform braucht kein Publikum, der Akteur ist sein eigenes Publikum. Außerdem kann es auch in Gedanken aktiviert werden. Man muss es nicht physisch tun, indem man es anfasst. Es geht um das Verhältnis von Körper, Material, Zeit und Raum.

    Ein Minimalist wie Donald Judd experimentierte in den Sechzigern mit ähnlichen Ideen.
    Ich kannte Judd ganz gut. Aber meine Kunst ist eben nicht minimal. Sie ist maximal.

    Anders als in Deutschland stieß dieses Konzept in New York auf großes Interesse: Bereits zwei Jahre nach Ihrer Ankunft wurden Sie im Museum of Modern Art ausgestellt. Für Ihre Kollegen zu Hause muss das ein Schlag in die Magengrube gewesen sein.
    Das MoMA war eine gigantische Autorität, die Ausstellung wurde in allen großen deutschen Tageszeitungen besprochen. Die Künstlerkollegen behandelten mich danach, als wäre ich ein Gauner oder Betrüger. Dabei strotzten die Besprechungen vor Unverständnis. In der Welt stand: »Wo die Kunst heute hingekommen ist, kann man daran zeigen, dass dem deutschen Künstler Franz Erhard Walther in dem berühmten MoMA ein Sackhüpfen erlaubt wird.«

    Mit dreißig eine Ausstellung im MoMA, Freundschaften mit den größten Künstlern Ihrer Zeit, viermaliger Teilnehmer der »documenta« in Kassel, 1971 folgte eine Professur an der Kunsthochschule in Hamburg. Und trotzdem sind nicht Sie zum Star geworden und haben keine Millionen verdient, so wie Ihr Studienfreund Gerhard Richter. Wurmt Sie das?
    Um kommerziell so erfolgreich zu sein wie Richter, muss man Sachen machen, die den Vorstellungen des Publikums entgegenkommen. Und das wollte ich nicht. Ich wollte keine Varianten machen, keine Kompromisse. Das hätte ich als einen Betrug an meinem Werk empfunden. Das gehört einfach nicht zu meiner Vorstellung von Kunst.

    Sie sind nun 77 Jahre alt und arbeiten immer noch Tag für Tag an Ihrem Holztisch in Ihrem Atelier in Fulda.
    Eher Nacht für Nacht. Ich schlafe sogar hier, dort hinten in der Ecke steht mein Bett. Für mich als Künstler ist die Nacht die spannendste Zeit. Absolute Ruhe, ich bin durch nichts gestört, es gibt keinen, der mich ablenkt. Sie können sich aber auch auf niemanden beziehen, es ist niemand da, der sagt, du bist richtig, du bist falsch. Das ist ein merkwürdiges Gefühl, manchmal auch mit Melancholie verbunden. Diese Einsamkeit des Ateliers muss man auch aushalten können. Ich kenne eine Reihe von Künstlern, die nachts in die Kneipe müssen, weil sie diese Einsamkeit eben nicht aushalten.

    Warum können Sie es?
    Durch die Begeisterung für Kunst. Weil ich das Gefühl habe, dass ich noch in der Lage bin, die Dinge weiterzuentwickeln, weiterzutreiben, zu neuen Vorstellungen zu kommen.

    Wie sind Ihre Wegbegleiter mit jener Einsamkeit umgegangen?
    Walter De Maria war in der Lage, die Einsamkeit des Ateliers zu ertragen, damit zu leben, sie produktiv zu machen. Andere Künstler brauchen den Rummel, das Draußen, bei Kippi war das so. Der brauchte das, das war sein Lebenselixier, seine Stimulanz.

    Wie sind Martin Kippenberger und Sie sich zum ersten Mal begegnet?
    Er war mein Schüler in Hamburg. Aber er hat mich getestet, bevor er zu mir in die Klasse wechselte. Damals war er vielleicht Mitte zwanzig, das Gesicht leicht ruiniert, ob das Alkohol war oder Schlägereien, weiß ich nicht. Aber er hatte eine optimistische, fröhliche Ausstrahlung. Er kam also und fragte, ob ich nicht mal seine Arbeiten angucken wollte. Ich besuchte ihn noch am selben Tag, an der Wand hing eine Fotoreihe, für die er seinen Kopf mit Rasierschaum eingesprüht hatte. Ich kapierte sofort, was er wollte. Es gibt doch dieses Bild von Marcel Duchamp mit Schaum im Gesicht und Hörnern, fotografiert von Man Ray. Er dachte, ich gehe da jetzt ernst drauf ein, da hätte er sich schlappgelacht. Ich sagte nur, »Na, Martin Duchamp …« Da war er baff. Der Unterricht fand dann in Kneipen statt, im »Vienna«. Da waren noch Markus und Albert Oehlen dabei und ’ne Reihe anderer. Das war immer heiter. Da hieß es: »Wir haben Zukunft, wir sind die Nächsten!« Das waren so Sätze von Kippi. Auch typisch für ihn, er sagte damals: »Mit euch«, also mit meiner Generation, »mit euch trete ich überhaupt nicht in Konkurrenz, der Berg ist mir viel zu hoch. Ich lauf drumrum!« Ist das nicht ein toller Satz?

    Martin Kippenberger ist nicht nur mit seiner Kunst, sondern auch mit seinem Lebenswandel berühmt ­geworden. Hat Sie diese Seite des Künstlerlebens nie interessiert? Die Frauen, die Drogen, der Exzess?
    Nein, meine Stimulanz ist die Ruhe. Ich habe auf meine Weise exzessiv gelebt, nicht nach außen im Sinne von Drogen, saufen, Schlägereien. Sondern indem ich meine Kunst gegen alle Widerstände durchgesetzt habe.

    Es scheint, als hätten Sie Ihr Leben Ihrer Kunst untergeordnet.
    Das ist wohl so. Das habe ich der Familie teilweise auch zugemutet, in der ersten Ehe die zwei Söhne habe ich nicht vernachlässigt, aber die haben nicht die übliche Kindheit haben können, weil ich als Vater nicht wirklich präsent war.

    Bereuen Sie das?
    Ein bisschen, ja. Wir haben heute einen wunderbaren Umgang, aber zeitweilig habe ich eine gewisse Trauer gespürt, weil etwas fehlte.

    Sie haben Ihre persönliche Verwirk-lichung über die Bedürfnisse Ihrer Kinder gestellt.
    Das ist etwas krass gesagt, aber es ist was dran. Dennoch habe ich das, was ich als Vater tun konnte, immer getan. Ein Rabenvater, der sich nicht kümmert, war ich nicht. Ich war den beiden sehr zugetan. Erschwerend kommt hinzu, dass Künstlersein kein Beruf ist.

    Sondern?
    Einen Beruf verbinde ich mit einer Aufgabe. Die gibt es in der Kunst nicht. Sie schwebt frei im Raum. Mir hat auch niemand einen Auftrag gegeben. Niemand außer mir selbst.

    Sie sind zum zweiten Mal verheiratet. Und es klingt, als seien Ihre Partnerinnen sehr großzügig mit Ihnen gewesen. Ihre erste Frau Johanna näht immer noch Ihre Stoffarbeiten, obwohl sie seit fast vierzig Jahren getrennt sind. Ihre zweite Frau Susanne organisiert Ihre Ausstellungen und Publikationen.
    Ich hatte Glück. Ich habe auch versucht, ein Alltagsleben mit Familie zu führen. Aber im Zentrum, dagegen konnte ich mich nicht wehren, blieb die Kunst.

    Hinter Ihnen steht ein Bild, das Ihre 17-jährige Tochter Giorgina von Ihnen gemalt hat. Es zeigt Sie mit dem Goldenen Löwen in der Hand. Ist das Verhältnis zu ihr anders als das zu Ihren Söhnen damals?
    Ja. Ich kann heute großzügiger sein, als ich es damals mit meinen Jungs war. Da spielt bestimmt auch mein Alter eine Rolle. Giorgina will Comiczeichnerin werden, und wir sitzen oft stundenlang schweigend nebeneinander und zeichnen. Auf mich ist die Kunst irgendwie niedergerieselt, wie Sternenstaub. Vielleicht geht es ihr genauso.

    https://sz-magazin.sueddeutsche.de/kunst/die-ablehnung-hat-mich-bestaerkt-85671

    Foto: Evelyn Dragan

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