Tina Schulz
Nov 5, 2011 – Jan 28, 2012
In ancient India, the board-and-dice game “Snakes and Ladders” stood for the power of fate, for strokes of luck and setbacks people can only humbly accept as they come. On their path from the starting square to the finish, players are frequently lifted forward (when they encounter a ladder) or thrown back (when they step on a snake). Strategic skill is of no avail; victory is a matter of pure luck.
Das Würfelbrettspiel „Schlangen und Leitern“ stand im alten Indien für die Macht des Schicksals, für Glück und Rückschläge, die Menschen nur in Demut hinnehmen können, so wie sie kommen. Beim Weg von Start zum Ziel werden die Spieler immer wieder vorwärts geworfen (wenn sie auf eine Leiter treffen) oder zurück (wenn sie auf eine Schlange treten). Strategisches Können hilft da nichts. Der Sieg ist reiner Zufall.
Tina Schulz adopts formal elements from the board for a seventeen-part series of graphite drawings in which they gradually dissolve. Working with unvarying building blocks—squares and wavy lines—she assembles her decompositions like variations on the theme of captivity in a systemic infinite loop. She takes what lends the game its fate-like structure—the continual return of circular movements through space and time—and applies it to the space of graphical perception, as well as to the overall conception of her first solo exhibition at KOW.
The artist, who was born in 1975, uses the two interlocking L-shaped spaces of the gallery’s architecture to interweave the perception of time, space, and imagery by hewing to a small set of rigorous formal principles, tying it back into itself from exhibit to exhibit. The show opens with a sculptural ensemble that, like a mise en abyme, an image containing a replica of itself, recapitulates the surrounding architecture, rearranging it as a minimalist architectonic body. Next to it, a monitor reflects the movement the visitors to the gallery perform as they walk through the exhibition—from the ground floor down to the basement and back to the ground floor—as a textual animation of a simple logical operation: as the movement From A to B and Back Again to A. As we embark on a tour of the show, our standpoint A is in the present; at the point in time B, however, it will already be behind us—and on the other hand, still before us. If we were to repeat the circular movement From A to B and Back Again to A, moreover, A would already have been both in the past and in the future once before as we reach B a second time, and depart it; etc.
Tina Schulz übernimmt Formelemente des Spielbretts in eine 17-teilige Reihe von Graphitzeichnungen und löst sie darin allmählich auf. Aus den immergleichen Bausteinen – Quadraten und Wellenlinien – setzt sie ihre Dekompositionen zusammen wie Variationen auf die Gefangenschaft in einer systemischen Endlosschlaufe. Was dem Spiel seine schicksalhafte Struktur gibt, die stete Wiederkehr raumzeitlicher Kreisbewegungen, überträgt sie auf den grafischen Wahrnehmungsraum und zugleich auf die Gesamtkonzeption ihrer ersten Einzelausstellung bei KOW.
Die zwei L-förmig ineinandergreifenden Raumvolumen der Galeriearchitektur nutzt die 1975 geborene Künstlerin, um Zeit-, Raum- und Bildwahrnehmung entlang weniger, strenger Formprinzipien miteinander zu verschränken und von Exponat zu Exponat immer wieder kurzzuschließen. Wie eine mise en abyme, ein Bild, das sich noch einmal selbst enthält, rekapituliert ein Skulpturenensemble anfangs die umgebende Architektur und ordnet sie als minimalistischen Raumkörper neu an. Die Bewegung, die Besucher der Galerie vollziehen, während sie die Ausstellung vom 1. Stock hinab in das Kellergeschoss und wieder zurück in den 1. Stock durchschreiten, findet sich daneben auf einem Monitor als Textanimation einer einfachen logischen Operation gespiegelt: Als die Bewegung Von A nach B und wieder zurück zu A. Während unser Standpunkt A zu Beginn des Ausstellungsrundgangs in der Gegenwart liegt, wird er zum Zeitpunkt B einerseits schon hinter uns liegen – zugleich aber auch noch vor uns. Wiederholten wir die Kreisbewegung Von A nach B und zurück nach A, würde A zudem schon einmal in der Vergangenheit wie auch in der Zukunft gelegen haben, während wir B ein zweites Mal erreichen – und wieder verlassen; etc.
Only he controls time who already knows how what is emerging passes.
Nur wer bereits weiß, wie das Kommende vergeht, kontrolliert die Zeit.
In this manner, Tina Schulz’s exhibition develops moments of (repetitive) temporal synchronicity. It layers past and future, capturing us in spatiotemporal loops of perception, apprehending our sense of time in circular inferences that often elude everyday perception even as they are of systemic relevance to the present. That is illustrated by a picture Tina Schulz outlines in words in another textual animation installed in the basement. In 1830, Joseph Michael Gandy drew a bird’s-eye view of the Bank of England’s new building, which was about to be completed. Yet he showed the construction site of the financial institution’s home as an expanse of rubble. The British national bank’s building site—in ruins? Gandy in fact idealized the rise of the banking house precisely by anticipating its future downfall, casting it in the enveloping sublime light of Romanticism. Only he controls time who already knows how what is emerging passes. And only he who already sees how tomorrow ends can do business with that knowledge today. The picture of the newly constructed bank as a ruin shows past and future hand in hand, elevating the credit institution’s fate above the imponderables of history—an aspiration of (financial) modernism whose presumptuousness we are familiar with.
Tina Schulz integrates the description of Gandy’s picture into her animated film Das Grundgerüst as one of three text loops running in parallel that tie the beholder’s perception of time back to experience in the here and now. She lets the flow of language mirror itself, interweaving it with the reader’s (imaginary) movement through space. Relying on very simple visual means, Schulz’s film as well as her exhibition grasp the performative nature of all cognition as the circular movement of a subject from seeing to interpretation and back to seeing, from action to understanding and back to action. A movement that orients itself in time and space without ever arriving in them altogether: reality is an imagination that incessantly reaches forward and backward within spatiotemporal coordinates. The moment is recollection and projection.
Tina Schulz was born in Munich in 1975. She lives and works in Brussels.
Text and photos: Alexander Koch
So entwickelt Tina Schulz’ Ausstellung, während wir sie sehen, Momente (wiederholter) zeitlicher Synchronizität. Sie schichtet Vergangenheit und Zukunft, fängt uns in raumzeitlichen Wahrnehmungsschleifen. Sie erfasst unser Zeitempfinden in Zirkelschlüssen, die der alltäglichen Erfahrung oft entgehen und doch für die Gegenwart von systemischer Relevanz sind. Das macht ein Bild deutlich, das Tina Schulz in einer weiteren Textanimation in Worten skizziert, die sich im Untergeschoss befindet. Joseph Michael Gandy zeichnete 1830 den Neubau der Bank of England kurz vor dessen Fertigstellung aus der Vogelperspektive. Er zeigte den Bauplatz des Finanzinstituts indes als Ruinenlandschaft. Die Baustelle der britischen Nationalbank – in Trümmern? Tatsächlich idealisierte Gandy die Entstehung des Bankhauses gerade dadurch, dass er dessen künftigem Verfall schon vorgriff und ihn ganz in das erhabene Licht der Romantik hüllte. Nur wer bereits weiß, wie das Kommende vergeht, kontrolliert die Zeit. Und nur wer schon sieht, wie das Morgen endet, kann damit heute Geschäfte machen. Im Bild des Bankenneubaus als Ruine reichen sich Vergangenheit und Zukunft die Hand, erhebt sich das Schicksal der Kreditanstalt über die Unwägbarkeiten der Geschichte – ein Anspruch der (Finanz-)Moderne, dessen Vermessenheit bekannt ist.
Tina Schulz lässt die Beschreibung von Gandys Bild in ihren Animationsfilm Das Grundgerüst als eine von drei Textschleifen einfließen, die parallel verlaufen und die Zeitwahrnehmung der Betrachterinnen und Betrachter an die Erfahrung im Hier und Jetzt rückkoppeln. Sie lässt dabei den Fluss der Sprache sich selbst spiegeln und verwebt ihn mit der (imaginären) Bewegung des Lesers durch den Raum. Mit einfachsten bildnerischen Mitteln erfassen Schulz’ Film wie auch ihre Ausstellung den performativen Charakter jeder Erkenntnis als die zirkuläre Bewegung eines Subjekts vom Sehen zum Deuten und zurück zum Sehen, vom Handeln zum Verstehen und zurück zum Handeln. Eine Bewegung, die sich in Zeit und Raum orientiert, ohne je ganz darin anzukommen: Die Realität ist eine Vorstellung, die innerhalb raumzeitlicher Koordinaten ständig vor- und zurückgreift. Der Augenblick ist Erinnerung und Projektion.
Tina Schulz, 1975 geboren in München, lebt und arbeitet in Brüssel.
Text und Fotos: Alexander Koch
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