Online exhibition: The Illusion of a Crowd

Bis Februar diesen Jahres zeigten die Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig und das Kunstmuseum Luzern Wedemeyers Ausstellungen Mehrheiten bzw. In Gesellschaft, die heute inhaltlich noch einmal in neuem Licht erscheinen. In Zusammenarbeit mit Clemens von Wedemeyer veröffentlicht KOW die Filme aus dem jüngsten Werkzyklus des Berliner Künstlers als Auftakt einer neuen Reihe von KOW ISSUES Online.

Die zentrale Arbeit in Wedemeyer neuem Filmzyklus, 70.001, rekonstruiert im digitalen Raum die Montagsdemonstrationen auf den Leipziger Straßen im Oktober 1989. Doch etwas unterscheidet die Computersimulation der Massenbewegung von den historischen Ereignissen: Die Menge durchströmt das digitale Leipzig von heute. Und sie löst sich am Abend nicht wieder auf, um nach Hause zu gehen. Die Algorithmen brauchen keine Pause und fügen jeden Tag den Demonstrant*innen von Gestern weitere hinzu. Bald sind die Straßen bis zum Horizont überfüllt mit animierten Klonen, wird die Demo zu einem viralen Meer stereotyper Körper. Liegt ihnen eigentlich ein Wille zugrunde? Was wollen sie? Ist ihr Verhalten vorprogrammiert?

Die Form von Wedemeyers Animation ist eine Videowall, die im Ausstellungsraum installiert ist. Beim Online-viewing auf dem heimischen Computer schwingt nun zudem die Frage mit, ob man seinen Web-Avatar einst – oder schon heute – von zuhause aus in eine Demonstrationen auf virtuellen Straßen schicken wird. Wird die digitale politische Öffentlichkeit künftig Montagsdemonstrationen im Datenraum organisieren?

In Transformation Scenario präsentiert eine vertrauenswürdige Stimme in beruhigendem Tonfall neueste Erkenntnisse über das Verhalten von Massen und Individuen – von Woodstock bis zu Viren. Vor dem Hintergrund kraftvoller Bilder des Kinos, die eine von Statisten simulierte, bedrohliche Macht der Vielen evozieren, die jede Gesellschaft infizieren kann, wirbt die Stimme für ein neues Bild des Menschen. Eines Menschen, der in komplexen Situationen nicht mehr selbst entscheiden muss, was zu tun ist. Das Wissen aus der Massenpsychologie erlaube heute die automatisierte Steuerung des Einzelnen, und befreie so das Individuum von Zweifeln und Ungewissheiten. Angeleitet von künstlicher Intelligenz kann jeder endlich frei und ganz er selbst sein.

Crowd Control ist ein Simulationsprogramm für Polizei, Militärs und Sicherheitsdienste, mit dem die Dynamik von Massenprotesten gesteuert und Gegenmaßnahmen trainiert werden können. Wedemeyers gleichnamiger Film zeigt den Aufbau unterschiedlicher Modellszenarien, in denen Demonstrierende und Polizei aufeinandertreffen, und die Menge den Weg aus der Umklammerung des Staatsapparates findet. Oder auch nicht. Je nachdem, wer das Spiel beherrscht.

In seiner filmischen Inszenierung Faux Terrain verschränkt Wedemeyer die Isolation einer einzelnen Protagonistin mit einer absurd erscheinenden Kette von Massenereignissen, die von den Protesten der Gelbwesten über Sicherheitsmaßnahmen im Kalten Krieg bis zurück ins Jahr 1871 reichen, als die Schweiz 87.000 französischen Soldaten Asyl gewährte und dabei zu ihrer nationalen Identität als neutraler, humanitärer Staat fand. Doch die Neutralität schlägt in der Gegenwart in Chaos um: die einsame junge Frau wird in den leeren weißen Räumen eines Museums von einer ziellos hastenden Menschenmenge überrannt, die im White Cube keine Orientierung findet.

Ein Unglück geschieht. Aber alles halb so wild. Wenige Menschen wurden probehalber leicht verletzt – eine Hundertschaft an Bediensteten steht ihnen bei. In Wedemeyers Katastrophenübung kümmert sich das Gesundheitswesen liebevoll um kleine Schrammen, vor allem aber um sich selbst. Die Übung ohne Unfall schult den Blick für staatliche Organisationsbedarfe in Krisenzeiten, in denen kommunikative und bürokratische Routinen den Einzelnen umgeben und in eine geschlossene Gesellschaft einbetten, während er, oder sie, tatsächlich vielleicht nur noch sich selbst hat.

Wedemeyers Filme geben Anlass, die eigene Position in den realen, medialen und digitalen Räumen der Versammlung und Vereinzelung neu zu überdenken. Die Masse, verstanden als impulsives Kollektiv ergriffener Körper und Gefühle, erscheint heute so bedrohlich wie solidarisch gegenwärtig. Die Regulierung und Kontrolle ebendieser Körper und Gefühle, und ihrer Handlungsmacht, wird sich in der kommenden Zeit als eines der politischen und wohl auch künstlerischen Kernthemen zeigen, auf das uns Wedemeyer einstimmt.

Text: Alexander Koch

[1] Elias Canetti: Masse und Macht, Hamburger Vorlesungen / Textfassungen 1959-1960. Nachlass Canetti 52, Handschriftenarchiv, Zentralbibliothek Zürich, Seite 13: „Die Masse wirkt nicht nur auf den Menschen, der sich in ihr befindet und ihr ausgesetzt ist, sie wirkt auch in ihm nach, wenn er allein und isoliert ist, und in seiner grössten Isolierung wirkt sie manchmal am stärksten. Das Studium gewisser seelischer Erkrankungen führt hier zu den überraschendsten Resultaten. Der Geist von Schizophrenen und Paranoikern ist von den erstaunlichsten Massen bevölkert, und es ist keineswegs müssig, diese gewissenhaft zu erforschen. Denn gerade in der Paranoia hat man den Nervenpunkt gefunden, wo Masse und Macht sich am engsten berühren.“